Von der Ferienanlage zur Kaserne
Wer heute am Strand von Prora entlangschlendert, kann sie kaum übersehen: Die grauen Betonblöcke, die sich kilometerweit am Ostsee-Ufer entlangziehen. Für viele wirkt es befremdlich – diese massive Architektur direkt neben der Naturschönheit des Meeres. Was als Hitler-Urlaubstraum begann, wurde nach Kriegsende zur DDR-Kaserne umfunktioniert. Für einen speziellen Teil der DDR-Armee.
Nach 1945 stand der riesige Komplex zunächst leer. Doch die DDR-Führung erkannte schnell: Was für einen Massentourismus gedacht war, konnte auch Soldatenmassen beherbergen. So zog ab den 1950er Jahren die Armee ein und schrieb ein neues, weniger bekanntes Kapitel in Proras Geschichte.
Die Nutzung durch die Nationale Volksarmee (NVA)

1956, mit der Gründung der NVA, bekam Prora seinen neuen Zweck. Die „Walter-Ulbricht-Kaserne“, wie sie nun hieß, wurde Heimat für tausende Soldaten. Die endlosen Korridore füllten sich mit Leben – allerdings nicht mit Urlaubern, sondern mit Rekruten, die hier den sozialistischen Militärdienst absolvierten.
DDR Militärgeschichte Rügen
Die langen Betonbauten eigneten sich perfekt für die militärische Nutzung. Als Prora Kaserne der DDR.
Hier gab es Platz für Schlafsäle, Ausbildungsräume, Werkstätten und Kantinen. Die Schützen- und Pionierregimenter fanden in den baugleichen Zimmern, die einst für Touristen gedacht waren, ihr Quartier.
Der Alltag war geprägt von sozialistischer Erziehung. Überall in der Kaserne hingen Propagandaplakate, die den „Kampf gegen den Imperialismus“ beschworen. Die einst für fröhliche Urlauber konzipierten Räume wurden zu Orten strenger militärischer Ordnung.
Die Bausoldaten: Wehrdienstverweigerung in der DDR
In den Gebäuden lebten nicht nur reguläre Soldaten. Prora wurde auch zur Heimat der „Spatensoldaten“ – junge Männer mit Gewissensbissen, die den Dienst an der Waffe verweigerten. In der DDR gab es keine offizielle Kriegsdienstverweigerung, aber seit 1964 den Kompromiss der Bausoldaten.

Diese trugen statt Tarnfleck graue Uniformen mit einem Spaten-Symbol am Ärmel. Sie mussten schwere Bauarbeiten verrichten: Betonieren, Straßen anlegen, Kasernen renovieren. Der Dienst war bewusst hart gestaltet, um wenig attraktiv zu sein.
„Wer den Spatendienst wählte, hatte sein Leben lang Nachteile“, erzählte ein ehemaliger Bausoldat bei einer Führung durch Prora. „Keine Chance auf Studium, nur einfache Jobs – der Staat vergaß nicht, wer den Waffendienst verweigert hatte.“
Trotzdem entschieden sich viele junge Männer, besonders aus kirchlichen Kreisen, für diesen Weg. Für sie wurde Prora zu einem Ort der Bewährung und manchmal auch zu einem Zentrum stillen Widerstands.
Strategische Bedeutung Proras im Kalten Krieg
Die Lage machte Prora strategisch wertvoll. Von hier aus konnte man die Ostsee überwachen – ein wichtiger Vorteil im Kalten Krieg. Außerdem bot der riesige Komplex genug Platz für Ausbildung, Unterbringung und Materiallagerung.
Die DDR nutzte Prora für verschiedene militärische Zwecke:
- Ausbildung junger Rekruten
- Lagerung von Fahrzeugen und Ausrüstung
- Unterbringung von Reserveeinheiten
- Stationierung von Bausoldaten
Die Nähe zur Küste machte Prora besonders für Landungsübungen interessant. Im Ernstfall hätte der Komplex auch als Lazarett oder Kommandozentrale dienen können. Die ursprüngliche Urlaubsarchitektur mit ihren vielen einzelnen Zimmern und langen Gängen erwies sich überraschend praktisch für militärische Zwecke.
Leben in der „Walter-Ulbricht-Kaserne“
Wie war es, hier Soldat zu sein? Ehemalige NVA-Angehörige erinnern sich an die Kälte, die durch die großen Fenster und dünnen Wände zog. „Im Winter war es immer kalt“, erzählte ein früherer Rekrut bei einem Zeitzeugengespräch. „Wir haben manchmal zu viert in einem Zimmer geschlafen, um es etwas wärmer zu haben.“
Der Tag begann früh um 5 Uhr mit dem Wecken. Es folgten Frühsport, Frühstück und dann der militärische Drill: Exerzieren, Schießübungen, politischer Unterricht. Abends gab es manchmal Freizeit – ein bisschen Kartenspiel, Musik hören, Briefe nach Hause schreiben.
Das Essen in der Kantine war einfach aber reichlich. Die Freizeitgestaltung blieb begrenzt. Manchmal wurden Filmabende organisiert – natürlich mit politisch korrekten Filmen. Ab und zu gab es Ausgang ins nahe Binz, aber immer nur in Gruppen und mit strenger Zeitvorgabe.
Trotz aller Härten entwickelte sich unter den Soldaten ein besonderer Zusammenhalt. Man half sich gegenseitig, tauschte Zigaretten und teilte Pakete von zu Hause. Einige knüpften hier Freundschaften, die ein Leben lang hielten.
Abrüstung und der Zerfall nach 1990
Mit dem Fall der Mauer 1989 und der deutschen Einheit 1990 endete die militärische Ära Proras abrupt. Die NVA wurde aufgelöst, die Soldaten nach Hause geschickt. Die Bundeswehr hatte kein Interesse an dem riesigen Komplex – zu groß, zu teuer im Unterhalt, zu unpraktisch für moderne Militärstandards.
So begann eine Zeit des Verfalls. Nach der Wende wurde Prora verlassen und entwickelte sich zu einem berühmten Lost Place.
Wind und Wetter nagten an den Gebäuden. Plünderer holten sich, was nicht niet- und nagelfest war. Die Natur eroberte sich langsam Teile des Geländes zurück. Gras wuchs zwischen Betonplatten, Birken sprossen aus Dachrinnen.
Es dauerte über ein Jahrzehnt, bis erste Konzepte zur Neunutzung entwickelt wurden. Manche Teile wurden abgerissen, andere renoviert.
Heute finden sich in Prora Ferienwohnungen neben Museen, teure Eigentumswohnungen neben historischen Ausstellungen.
So stehen viele ehemalige Kasernengebäude zwischen Verfall, Denkmalschutz und Luxussanierung.
Prora als Mahnmal einer vergangenen Ära

Der Betonriese am Ostseestrand erzählt verschiedene Geschichten – von Hitlers Größenwahn über die militärische DDR-Geschichte bis hin zum heutigen Umgang mit schwierigem Erbe.
Wer heute durch die teilweise renovierten, teilweise immer noch verfallenen Gebäude streift, kann die Spuren all dieser Epochen entdecken. Einige der alten Kasernenräume sind als Museum eingerichtet und zeigen, wie die Soldaten hier lebten. Fotos dokumentieren den militärischen Alltag, ehemalige Ausbildungsräume wurden in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt.
Besonders beeindruckend sind die persönlichen Geschichten: Erinnerungen früherer Soldaten, Briefe, die sie nach Hause schrieben, abgenutzte Alltagsgegenstände.
Sie machen greifbar, wie es war, in diesem seltsamen Zwitter aus Ferienarchitektur und Militärnutzung zu leben.
Prora ist mehr als ein Bauwerk – es ist ein steinernes Geschichtsbuch am Ostseestrand. Es erzählt von großen Plänen und ihrem Scheitern, von Zwangsgemeinschaft und Kameradschaft, von der Teilung Deutschlands und dem Kalten Krieg.
Ein faszinierender Ort, der zum Nachdenken anregt und daran erinnert, wie schnell sich die Bestimmung eines Ortes wandeln kann.
Bildquellen:
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Prora%2Bneuestes.jpg
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bausoldat_Schulterstueck.jpg
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-42998-0003,_R%C3%BCgen,_Grenzpolizei_der_DDR.jpg